Ankommen
Jetzt sind es schon gut 5 Wochen und ca. 400 km zu Fuß, die ich in New York verbracht habe. Dass es nicht mehr Kilometer geworden sind, lag am heftigen Regen, den wir hier für eine komplette Woche, eigentlich fast jedes Wochenende und einen ganz besonders heftigen Freitag lang (der aus den Nachrichten) hatten, da war dann doch eher Zuhausebleiben angesagt. Zu Hause ist übrigens eine wirklich schöne Wohnung im obersten Stock eines Brownstone-Hauses von1910 in Harlem., in der wir uns sehr wohl fühlen. Sie ist so ruhig, dass wir nachts sogar mit offenem Fenster schlafen können, das Schlafzimmer geht auf einen kleinen Hinterhof hinaus mit Blick auf einen Kirchturm. Aus dem Wohnzimmer sehen wir auf zwei gleichalte schöne Brownstone-Gebäude und über ein niedriges 60er-Jahre Waschbeton-Schulgebäude hinweg bis wir ganz in der Ferne sogar noch „The Edge“ mit seiner Aussichtsplattform am Hudson sehen können. Komischerweise macht auch die Schule überhaupt keinen Lärm, nicht einmal wenn die Kinder morgens gebracht oder nachmittags wieder von den gelben Schulbussen abgeholt werden, erstaunlich.
Unsere Straße hier in Harlem ist auf dem Straßenschild der Black Panther Bewegung gewidmet. Vor dem nächsten Supermarkt an der Malcom X Avenue stehen am Eingang immer zwei Polizisten. Auf der Hauptstraße dahinter bin ich mir meines Migrationshintergrunds völlig bewusst und alle anderen auch. An der Kirchentür werde ich sonntags abgewiesen, „No Tourists“. Integration ist hier schwer, und ich weiß tatsächlich nicht, ob ich mir für die paar Monate noch mehr Mühe geben soll. Immerhin werde ich in den anderen Vierteln von Manhattan gerne von orthodoxen Juden auf Englisch oder Jiddisch gefragt, ob ich jüdisch bin. Ich hoffe dann immer, dass mein „No“ ohne deutschen Akzent ist und frage mich, warum sie die anderen um mich herum nicht fragen?
Ich bin die meisten der langen Avenues komplett entlanggegangen, kenne die meisten Viertel von Manhattan und fast nichts von den anderen Stadtteilen New Yorks. Ich habe ein paar Angewohnheiten angenommen: Ich gehe, wie alle New Yorker, dann über die Straße, wenn kein Auto kommt, egal, ob die Ampel „Rot“ zeigt. Damit ich zügig über die Straße komme, warte ich nicht auf dem Bürgersteig, sondern schon auf der Straße. Das geht schon seit dem 2. Tag hier ganz selbstverständlich. Und ich bewege mich zügig, schnell. Wer stehen bleibt, hat schon verloren. Wenn in Google Maps „20 Minuten zu Fuß“ steht, braucht man hier 13 Minuten. Pro Kurzseite eines Blocks eine Minute, inklusive Wartezeit an den Ampeln.
Ich habe mich an den ständigen Cannabis-Gestank gewöhnt, bin quasi draußen „Passiv-Kiffer“. Nur bei Regen ist es etwas weniger, außer unter den Baugerüsten. Und es gibt ein paar Stellen / Parks, in denen es verboten ist, dort ist es gleich viel ruhiger und netter, gepflegter. Wie alle New Yorker versuche ich, mich vom Times Square fernzuhalten, der Rummel ist einfach zuviel. In der Subway habe ich den gleichen, desillusionierten Blick ins Leere drauf wie alle, besonders, wenn einzelne „Problembären“ zusteigen - neulich ein angetrunkener „Poet“, der lautstark ein grässliches, selbstgemachtes Gedicht über das Sterben deklamierte und Geld sammeln wollte, oder einer der ständig mit einem Stock auf den Boden klopfte und immer den gleichen Namen rief, man ignoriert sie alle, man ignoriert die leere Flasche, die beim Beschleunigen der U-Bahn in die eine und beim Bremsen in die andere Richtung an einem vorbeikullert und hofft, dass sie das nächste Mal irgendwo weit weg an einer Strebe hängenbleibt. Man ignoriert den Müll. Wenn man nach Hause kommt, zieht man sofort die Schuhe und die „Train-Kleidung“ aus und setzt sich in frischen, sauberen Klamotten auf’s Sofa. Andererseits finde ich die Subway enorm praktisch und effizient: Man swipt mit seinem Handy oder der Kreditkarte über die Einlasskontrolle, wenn man öfter als 10 Mal in einer Woche mit der gleichen Karte bzw. dem gleichen Handy geswipt hat, sind alle weiteren Fahrten kostenlos. Egal, wie weit man fährt (unter 2 h), eine Fahrt (auch mit umsteigen) kostet 2,90 $. Damit könnte ich bis an den Strand fahren (habe ich noch nie gemacht) oder bis kurz vor den Flughafen. Die Züge kommen regelmäßig, ich habe es nicht weit zur nächsten Haltestelle, es gibt Express-Linien, die nur die großen Knotenpunkte anfahren. Mit meiner Lieblingslinie, der „A-Train“ bin ich in 10 Minuten / Viertelstunde in Downtown. Bei schönem Wetter allerdings laufen ich durch den Central Park dorthin und brauche dafür eine Stunde oder etwas mehr, je nachdem, welche krummen Wege ich durch den Park genommen habe oder ob ich einfach die schattigen Avenues am Rand entlang gegangen bin.
Überhaupt, der Central Park! Die Seele dieser grauen Stadt. Mein Ort für’s Menschsein. Ich könnte hier stundenlang entlang schlendern, stromern, joggen (wenn mir meine Füße nicht vom vielen Gehen schon immer weh tun würden) und entdecke immer wieder neue Lieblingsplätze, wunderbare und seltsame Dinge, Jazz-Trios und Quartette, Sänger*innen, einsame Saxophonisten, Poet*innen an pastellfarbenen alten Schreibmaschinen. und freue mich jetzt schon auf den Herbst, der gerade zaghaft anfängt. Central Park ist mein Wunderland, zum Fotografieren, Zeichnen, auf der Bank sitzen und genießen, andere beobachten, staunen. Bald werden sich die Blätter bunt färben, es sollen Zugvögel und Monarchfalter auf dem Weg in den Süden hier Station machen, ich hoffe, dass ich Vieles erleben kann.
Nach meinen Ausflügen zum Central Park gehe ich gerne auf der Upper West Seite zurück, dort gibt es viele jüdische Läden, in denen man „europäische“ Lebensmittel bekommt, vom Schwarzwälder Schinken (!) über Löwensenf, Dijon-Senf, gute Käse etc. Quasi alles, was sich noch etwas Geschmack bewahrt hat. Und das tatsächlich zu einigermaßen erträglichen Preisen - wobei das auch schon teuer ist... „Amerikanisches“ Gemüse schmeckt tatsächlich viel weniger intensiv als „deutsches“, die ganzen Bitterstoffe wurden aus Auberginen, Rosenkohl und Brokkoli herausgezüchtet, die Kartoffeln müssen sich mit der Gabel gut matschen lassen und Soße aufnehmen, das war alles „früher“ besser in den USA. Nur Avocados und Orangensaft schmecken tatsächlich besser. Insgesamt gibt es hier sehr viel koschere Lebensmittel, aber auch z.B. koschere Frischhaltefolie, da wundere ich mich dann doch manchmal.
Apropos Preise: Jeder New Yorker braucht nur deine Adresse kennen und den Haustyp und kann dir sofort sagen, was du an Miete zahlst. Er tut das auch ungefragt. Und hat natürlich Recht.
Essen gehen ist hier unfassbar teuer, erst Recht, wenn man zum Essen vielleicht noch ein Glas Wein trinken möchte. Ein italienischer Kollege meines Mannes geht nur Essen, wenn er einmal im Monat auf Geschäftskosten 3 Kollegen zu einem Arbeitsessen einladen darf (mit max. 1 Glas Wein pro Person). Ansonsten fliegt er lieber über’s Wochenende nach Mailand zu seiner Freundin und isst dort. Takeout-Menüs sind dagegen recht beliebt, aber das haben wir noch nicht ausprobiert, da wir gerne abends zusammen kochen.
Kultur ist nicht staatlich subventioniert, auch das macht sich preislich bemerkbar. Aber wir habe mittlerweile einen winzigen tollen Jazzclub in der Nachbarschaft entdeckt (mit „Bring you own bottle“!) und eine kostenlose Konzertreihe in der Trinity Church nahe der Wallstreet. Dennoch sind die Konzerte im Lincoln Center oder der Carnegie Hall schnell ausverkauft, da warten wir noch auf eine Gelegenheit, Tickets zu bekommen, ohne unsere Kinder quasi zu enterben.
New Yorker essen gerne spät zu Abend, also wäre es theoretisch, wenn es nicht soooo teuer wäre, möglich, gegen 17 / 18 Uhr auch ohne Reservierung einen Tisch in einem Restaurant zu bekommen. Wir hingegen sind abends völlig erschlagen nach all den Eindrücken in dieser Stadt, bzw. den ausufernden Forderungen der Bürokratie, so dass wir früh schlafen gehen. Was wir unter Bürokratie verstehen? Nun, die ersten drei Wochen hat mein Mann an der Uni nur ein Formular nach dem anderen ausgefüllt, jedes ausgefüllte Formular hat ein „neues Level“ freigeschaltet, auf dem weitere Formulare warteten. Alle wollen aber letztlich das Gleiche: Seinen Namen, Geburtsdatum, und seine Social Security Nummer (diese soll man niemals nie nicht jemandem mitteilen, weil sonst übler Missbrauch damit getrieben werden kann, aber jeder will sie haben). Dazu kommen aber aus „Sicherheitsgründen“ noch die Namen und Geburtsdaten der Eltern, und dann neben der Adresse noch die Telefonnummer. Die letzten beiden Angaben immer noch verhindern jegliches Weiterkommen beim Versuch, ein Bankkonto zu eröffnen: Unsere internationale Telefonnummer passt nicht ins Formular, wird vom Computer nicht akzeptiert. Und die Bankkarten können uns nicht zugesendet werden, weil bei unserem Haus der Schlüssel zum Briefkasten verloren gegangen ist (wir haben den Briefkasten einmal vom abgefangenen Briefträger öffnen lassen und darin die Post von Jahren und allen jemals dort lebenden Bewohnern gefunden). In der Bank abholen ist aber auch nicht möglich. Irgendwann ist es uns doch gelungen, für kurze Zeit einen Bankaccount zu eröffnen, als wir uns dann online angemeldet hatten, wurde uns der Zugang verweigert „souspicious activity“ – vermutlich, weil unsere Rechner oder Handy als „ausländisch“ erkannt wurde. Das bedeutet natürlich auch, dass wir also insgesamt keine wirklich bürgerliche, vertrauenswürdige Existenz haben. Dafür aber hatten wir beide eine Woche nach unserer Einreise immerhin eine Fortbildung zum Thema „Was muss beachtet werden bei der Beantragung vom Visum und der Einreise“. Fragt mich bitte, was ich hier alles verbessern könnte!
So, ich habe noch nichts über die Museen, Touristenattraktionen, Sehenswürdigkeiten etc. geschrieben. Vielleicht kommt das demnächst. Wenn man einmal anfängt, merkt man erst, wie viel es hier gibt. Man wird einfach nicht fertig. Nicht fertig mit dem Besichtigen, nicht fertig mit dem Fotografieren, nicht fertig mit dem Schreiben. Aber abends, da bin ich immerhin völlig fertig.