Sehnsuchtsort?
New York – das ist der Sehnsuchtsort vieler. Die Stadt von Glanz und Glamour, Sex and the City, Spielwiese der Reichen und Schönen (manchmal sind sogar die Reichen schön und die Schönen reich, aber das muss nicht immer so sein), der Milliardäre, die hier praktischerweise schon Billionäre sind und nach denen eine ganze Straße der eitel, arrogant und vermessen sich in den Himmel streckenden schlanker Hochhäuser benannt ist.
Aber wir müssen über Armut reden.
Das ist ein Thema, dem ich bisher ausgewichen bin. Armut ist hier überall zu sehen und zu erleben, wenn man die Augen nur öffnet. Man kann nicht sagen, man habe es nicht gewusst. In den Straßen und Parks liegen die Obdachlosen. Mal seht ein einsames Zelt in einem etwas abgelegenen Gebüsch im Central Park, mal wurde aus einer Bank mit Hilfe von Kartons und einem Einkaufswagen ein “one Bedroom no bathroom no kitchen” gebaut. Man sieht barfüßige Menschen, die bei nasskaltem Winterwetter mit einer schmutzigen Bettdecke um die Schultern barfuß durch die Straßen laufen. Viele der Obdachlosen haben ein Drogenproblem, sind kaum ansprechbar, starren minutenlang ohne ein Blinzeln der Augenlider in eine nur für sie vorhandene ferne Welt. Andere sind obdachlos, weil sie von irgendwoher (Süd- und Mittelamerika oder Westafrika) hierher geflüchtet sind. Es gibt Flüchtlingsunterkünfte in umgewidmeten Hotels, aber darin dürfen die meisten mittlerweile nur noch 30 Tage untergebracht werden, danach sind sie wieder auf sich selbst oder Hilfe von ihren Communities oder den zahlreichen Kirchen, die oft als soziale Stützpunkte in ihren Vierteln diesen, angewiesen. Hier in Harlem werden an mehreren Stellen an verschiedenen Tagen und zu unterschiedlichen Zeiten Lebensmittel und Kleidung verteilt, es gibt warmes Essen, und es gibt für alles eine lange, lange Schlange Bedürftiger, die oft um den ganzen Block reicht. In der Bronx, so schreibt die New York Times, mieten viele Bedürftige sogenannte „Hot Beds“ – d.h. in winzigen Apartments, meistens in Kellerräumen, sind so viele Schlafplätze wie möglich errichtet, und die werden schichtweise benutzt. Besonders gefährdet sind diese Schlafplätze bei den sintflutartigen Regenfällen, die der Klimawandel in New York hervorgerufen hat, und die mangels Grünflächen und wegen der zu klein konzipierten Kanalisation nicht ablaufen kann.
In der Subway trifft man auf weitere Formen der Armut: Die Obst- oder Süßigkeitenverkäuferinnen südamerikanischer Herkunft. Kleine junge Frauen, die mir kaum bis zur Brust reichen, die meisten tragen ein Baby oder ein Kleinkind in einem Tuch auf dem Rücken, manchmal ist das Kind schon fast halb so groß wie sie selbst. Wenn das Kind etwas älter als ein Jahr ist, wird ein Handy in dem Tuch vor seinem Gesicht platziert und dann kann das Kleine durch irgendwelche Trickfilme auf Youtube scrollen. Das scrollen geht erstaunlich gut, aber die Kinder scrollen und klicken meist verständnislos durch das bunte Geflimmere vor ihren Augen. Und die Mütter tragen einen Bauchladen, der im Sommer geschnitztes Obst, meist auf der Basis von Mango, enthält und im Winter ein buntes Sortiment von Süßigkeiten. So laufen sie den ganzen Tag über die Bahnsteige der einzelnen U-Bahn-Stationen, steigen in die U-Bahnen, durchkämmen die Abteile, wechseln an der nächsten Station in den nächsten Wagon. Ab und zu erbarmt sich jemand und kauft ihnen etwas ab. Dennoch ist dies wahrscheinlich schon die erste Stufe zu einer „erfolgreichen Migration“ – mit minimalen Sprachkenntnissen kann sofort angefangen werden, etwas Geld zu verdienen. Auch an anderen Plätzen entsteht so ein erstes „Business“: An den Warteschlangen vor den Flüchtlingsunterkünften werden von Migranten warme Mahlzeiten, Getränke und Zigaretten an ihre Nachfolger verkauft, es werden Haarschnitte auf dem Bürgersteig angeboten. Wer sich hochgearbeitet hat, richtet einen Foodtruck ein oder einen kleinen Shop ein. So entsteht zum Beispiel in Queens momentan nach und nach eine neue venezolanische (aus Venezuela kommen zur Zeit die meisten Immigranten nach USA, seit dem letzten Jahr mehr als 100.000) und ecuadorianische Community. In Queens existiert schon seit langem eine hispanische Nachbarschaft, in der die Integration durch die gleiche Sprache leichter fällt. Und wo schon ein Mitglied einer Familie oder eines Dorfes lebt, ziehen sie andere nach. Hier ist ein erstes Andocken möglich, wenn Geflüchtete nach den oben genannten 30 Tagen (Alleinreisende oder Familien, deren Mitglieder alle volljährig sind) oder maximal 60 Tagen (Familien mit Kindern) die Shelter (Gemeinschaftsunterkünfte) verlassen bzw. einen neuen Platz beantragen müssen. Tatsächlich wiederholt sich hier das uralte Versprechen New Yorks als Sehnsuchtsort von Immigranten aus aller Welt.
Aber Armut trifft auch alte Menschen, Menschen, die sich mangels Krankenversicherung hoch verschulden mussten. In Harlem übernehmen oft Kirchengemeinden die Organisation von Unterstützung mit warmen Essen, Lebensmitteln, Kleidung und Beratung. Und Kirchen gibt es hier sehr, sehr viele, das ist dann wieder ein eigens Kapitel.
Armut ist hier ständig präsent. In einer Stadt, in der ein Platz im Parkett der Oper schon mal über 1000 Dollar kostet. In der man als Familie knapp 100 Dollar für ein gewöhnliches Frühstück oder ein paar Burger bezahlt. In der die Weihnachtsdekoration funkelt und glitzert und es langsam kalt wird.