Fehlstellen
Ein halbes Jahr ist eine unglaubliche Möglichkeit, besser in eine so faszinierende Stadt wie New York einzutauchen. Aber es ist zu kurz, um sich einzuleben und ein Teil dieser Stadt zu werden. Und so hänge ich zwischen den Kulturen. Eigenartigerweise habe ich mit Heimweh gerechnet und es kein einziges Mal gehabt. Aber es gibt Dinge, die ich vermisse. Eines habe ich ja schon erwähnt, aber ich kann es gar nicht oft genug sagen: Die Möglichkeit, in einem halbprivaten Raum draußen zu sitzen. Auf einer Terrasse, einem Balkon. Oder wenigstens die Hand zum Fenster rausstrecken zu können um zu schauen, ob es regnet. Oder mich raus zu beugen, zu sehen, ob der Besuch schon kommt. Die Füße auf den Fensterrahmen hochzulegen, die Sonne genießen und eine Kaffee trinken. Über den Zaun zu schauen und Nachbarn kennenzulernen. Überhaupt: Nachbarn. Spoiler: Ich lerne erst am allerletzten Tag die Nachbarn in meiner Straße kennen, aus einem wirklich erschreckendem Grund (das Kapitel dazu kommt noch). Und die gute Nachbarschaft in meiner Straße zu Hause vermisse ich auch – man achtet aufeinander, hilft sich gegenseitig und wir feiern auch gerne zusammen.
Allerdings – wer einige Zeit in New York wohnt, bekommt regelmäßig Besuch von Familie und Freunden. Zoom und Telefonate helfen zusätzlich, dass wir in Verbindung bleiben.
Ich vermisse Wald. Richtigen Wald, keine Stadtparkbäume an asphaltierten Wegen, sondern feuchte Walderde, Moos, unvermutet am frühen Morgen beim Laufen einem Reh begegnen, im Herbst Pilze sammeln und im Frühling Bärlauch. Die waldige Luft genießen, den Duft von Nadelbäumen in der Sonne. Der Central Park tut, was er kann, aber das kann er nicht. Dafür schenkt er mir eine Menge anderer toller Momente.
Selbst Musik machen. Gut, meine Posaune ist dabei, aber ich vermisse mein Orchester. Zusammen mit Gleichgesinnten einmal die Woche Musik zu machen, ist eine unglaubliche Bereicherung für mein Leben. Ich finde erst einen Monat vor Ende des Aufenthalts heraus, wo ein entsprechendes Laienorchester sich trifft, aber da ist es schon zu spät, um mitzumachen. Das ist sehr schade, ich hätte das gerne einmal ausprobiert.
Ich dachte anfangs, dass ich deutsches Brot, vor allem Vollkornbrot vermissen würde, aber da habe ich im Wortsinne vollwertigen und sehr leckeren, allerdings auch sehr teuren Ersatz in einer dänischen Bäckereikette gefunden. New York hat mich in diesem Punkt ganz besonders positiv überrascht. Jetzt ist es eher so, dass ich tatsächlich dieses Brot zu Hause ein wenig vermisse.
Was ich auch sehr vermisse, sind kleine Geschäfte mit bezahlbaren, liebevoll kuratierten Sachen, schönen Design. Da die Mieten hoch sind, sind eben auch die Preise hoch. In einigen schicken Läden, die ich im West Village sehe, traue ich mich kaum rein. Dabei ist das Verkaufspersonal immer freundlich, bestenfalls desinteressiert. Aber ab einem gewissen Preislevel fühle ich mich unwohl. Es ist einfach nicht meine Welt. Tatsächlich freue ich mich auf die kleinen Lädchen in meinem Heimatort oder auch in Marburg, in denen die Besitzer selbst stehen, mich kennen, und in denen ich oft ein schönes Schnäppchen machen kann. Da macht Bummeln einfach mehr Spaß.
Ganz selten denke ich daran wie es war, Auto zu fahren. Ob ich es vermisse? Nicht, so lange mich meine Füße in Manhattan überall hintragen, 2000 km weit in der Zeit.
Ich vermisse die Unkompliziertheit, eine Flasche Wein oder einen Begrüßungssekt einfach im Supermarkt um die Ecke einkaufen zu können. Ich hasse den demütigenden Akt, als sichtbar erwachsene Frau an der Selbstscanner-Kasse mir den Kauf einer Packung Leichtbier (wer mich kennt, weiß, ich trinke es nicht, aber wer in New York lebt, bekommt wirklich sehr viel Besuch) genehmigen lassen zu müssen: Wenn man den Artikel scannt, leuchtet eine rote, puritanische Lampe der Schande und Suchtgefahr auf, jemand vom Verkaufspersonal muss kommen, meinen Ausweis kontrollieren und dann die Kasse freigeben, damit ich mein Geburtsdatum eingeben kann. Fun fact, für euch getestet: Der Supermarkt um die Ecke akzeptiert als Geburtsdatum den 11.11.1111. Bin eben echtes Mittelalter.