Aussichtslos
Das wahre New York-Abenteuer beginnt weit vor der Abreise: Wer länger bleiben möchte, als ein Hotelzimmer bezahlbar und praktikabel ist, muss eine Wohnung finden. Das ist vor allem in Manhattan selbst ziemlich schwierig und vor allem sehr teuer. Für viele Menschen ist es unbezahlbar. Junge Erwachsene leben in Einzimmer-Apartments mit ihren Eltern zusammen, es gibt Lotterien für geförderte Wohnungen und die Zeitungen berichten darüber, wenn jemand tatsächlich mal über so eine Lotterie nach bis zu zwei Jahren Wartezeit endlich ein eigenes Studio beziehen kann. Wohnungsgesellschaften haben auf ihrer Webseite Foren, auf denen man nach Mitmietern suchen kann, so dass ein One Room-Apartment bezahlbar wird. Einige wenige langjährige Mieter haben noch günstige alte Mietverträge von vor vielleicht 40, 50 Jahren. Da sie für eine neuere, viel kleinere Wohnung viel, viel mehr Miete zahlen müssten, bleiben sie auch verwitwet und verwaist in üppigen Fünfzimmer-Wohnungen an der Upper West oder East Side oder in alten Firmen- oder Universitätsangestellten-Apartments wohnen. Es gibt auch mietpreisgebundene günstige Wohnungen, und manche Vermieter verschweigen neuen Mietern diese Tatsache. Keine Chance also, an rare günstige Wohnungen heranzukommen.
Vielleicht an dieser Stelle mal ein paar Begriffe:
Studio: Ein kleiner Raum, in dem alles passiert. Wenn man Pech hat, und vor allem, wenn man nicht viel zahlen kann, gibt es noch nicht einmal ein Bad, bzw. es gibt ein Klo auf dem Flur, das man sich mit mehreren Menschen teilt. Zum Duschen geht’s ins Fitnessstudio. Das kostet so um die 1200 bis 1400 $.
One Bedroom: Siehe oben, aber hier mit einem abgeteilten Schlafzimmer. So leben ganze Familien, im Wohnzimmer steht dann eine Schlafcouch. Es ist die häufigste Wohnform in Manhattan. Momentan ca. 4000 $/ Monat.
Two Bedroom: Sehr begehrt. Egal, wie die Wohnung aussieht. Es gibt zu wenige. Neue Mietverträge rufen 7.000 $ auf.
Three Bedroom: Kaum zu finden, jedenfalls nicht in Manhattan.
Egal, was man mietet, man sollte jedoch das Zweieinhalbfache der Jahresmiete (sic!) auf einem New Yorker Bankkonto vorweisen können. Jetzt rechnet doch selbst einmal, spaßeshalber.
Die Alternative ist möbliertes Wohnen für kurze Zeit. Das ist dann noch etwas teurer, aber man spart sich das Einrichten, umziehen und Maklergebühren (15 % der Jahresmiete).
Was kann man denn so erwarten für das viele Geld? Überraschend wenig. Vorsicht, wenn das Wort „Kitchenette“ auftaucht. Das ist die formvollendete Umschreibung für „Mikrowelle im Schuhregal“. „Schicke Kitchenette“ bedeutet, dass im Regal noch eine No Name –Kaffeekapselmaschine steht. Die meisten Küchen haben weder Fenster noch eine Dunstabzugshaube. Sollte es dennoch ein Fenster geben, geht es gerne mal auf einen düsteren Lichtschacht hinaus. Vorsicht auch, wenn auf den Wohnungsfotos geschlossene Gardinen zu sehen sind – das bedeutet, dass das Fenster keine Aussicht hat, in einem Schacht liegt. „Prewar“ könnte sehr schön sein, ist aber oft einfach unsäglich. Blätternde Farbe, abgelaufene Böden und Ungeziefer könnten im Preis inbegriffen sein (Das ist nicht immer so, aber oft genug). In der Innenstadt ist es sehr selten, dass einmal ein Sonnenstrahl durchs Fenster fällt. Gibt es eine Aussicht, wird dies extra vermerkt.
Weil die Wohnungsnot groß ist, finden aber auch alle diese Wohnungen in Millisekunden Mieter. Um die Lage etwas zu entspannen, und weil nach der Pandemie durch im Homeoffice arbeitende Mitarbeiter viel Büroraum nicht mehr genutzt und benötigt wird, hat die Stadt New York ein Gesetz erlassen, wonach Büroräume in Wohnungen umgewandelt werden darf. Nur sind die tiefen Großraumbüroflächen nicht so einfach umzustrukturieren. Deshalb dürfen 45% der neuen Wohnräume als „Homeoffice“ deklariert werden und tatsächlich ohne Fensterfläche sein. Der findige New Yorker legt dann sein Schlafzimmer ins Homeoffice und wohnt so direkt zum Beispiel im Financial District. Dies wiederum hat zur Folge, dass sich dort nach und nach das Stadtviertel verändert: Es gibt nun dort Supermärkte, Kneipen, die auch abends auf haben, Spielplätze und Kitas. Aber keine Aussicht aus dem Bett.
Alle die Menschen, die solche Wohnungen gefunden haben, können sich glücklich schätzen. Die Menschen am Rande der Gesellschaft leben anders. Viele der neuangekommenen Migranten aus Südamerika oder Westafrika werden zunächst in einer Unterkunft („Shelter“) untergebracht. Das können ehemalige Billig-Hotels in Midtown sein, aber auch umgewidmete Bürogebäude. Nach wenigen Wochen müssen sie diese Unterkünfte wieder verlassen, nur Familie dürfen etwas länger bleiben, aber auch nicht wirklich lange. Wer dann nicht obdachlos werden möchte, findet sich oft in sehr prekären Wohnsituationen wieder: Einige Vermieter machen ihr Geld damit, dass sie heruntergekommene Gebäude an Migranten und Tagelöhner vermieten. Während der starken September-Regenfälle verloren einige Souterrain-Bewohner ihre Behausungen durch Überschwemmungen. In Gegenden wie der Bronx und einigen Teilen Brooklyns soll es auch „Hot Beds“ geben, d.h. Menschen teilen sich schichtweise ein Bett für ihren Traum vom Aufstieg in dieser gnadenlosen Stadt.