Nacht

Nachts in Manhattan

Die Sonne geht unter, das wird von allen Aussichtsplattformen und Rooftop-Bars gefeiert und mit dem Handy dokumentiert. Die Stadt fängt an zu glitzern, in den Bürotürmen leuchten die Fenster in allen vom kalten Neon bis zum warmen Weiß. Dem deutschen Architekten des Seagram-Buildings, Ludwig Mies van der Rohe, war das einheitliche Leuchten seines Gebäudes so wichtig, dass er die genaue Art der Leuchtmittel vorschrieb. Von meinen ersten New York Besuchen (da standen die Twin Towers noch) hatte ich das Glitzern ein wenig anders in Erinnerung: Der Times Square war zwar schon damals verrückt genug, aber tendenziell noch etwas „harmloser“, dafür strahlten alle Büros hell erleuchtet alle Nächte hindurch. Im Zuge des Energiesparens hat sich das etwas verändert, nicht mehr alle Räume bleiben die ganze Nacht hindurch hell beleuchtet und tragen so zum allgemeinen Glitzern der Stadt bei. Andererseits waren viele hohe Gebäude, die heute dazu beitragen, noch gar nicht errichtet.

Mit dem Zoom-Objektiv meiner Kamera habe ich an einem Abend in die Büros geschaut: Die allermeisten dieser Räume liegen einsam und verlassen dort. Selten dreht eine einsame Reinigungskraft ihre Runden mit einem Hoovergerät oder Putzwagen, noch seltener sitzt ein Mann mit weißem Hemd noch vor seinem Computer. Die ganze Stadt leuchtet Abend für Abend nur, um gesehen zu werden, für die Menschen, die auf irgendwo auf einer Terrasse stehen, ihren Cocktail heben und „Wow“ sagen. Manche Firma, die sich dem Energiesparen verschrieben hat, lässt ganze Gebäude im Dunkel stehen. Das gibt einen ganz eigenen Eindruck von düsterer, melancholischer Würde. Gerade alte Steinfassaden wirken in der Dunkelheit noch mächtiger und mystischer, verlieren sich mit den oberen Stockwerken im dunklen Himmel. Wenn dort nur ein einzelnes Fenster leuchtet, erzählt uns das eine Geschichte der Einsamkeit und dem Gefühl, winzig und nichtig zu sein in dieser Stadt, die einfach nicht schlafen will.

Im Central Park glühen die charakteristischen Jugendstil-Lampen ebenfalls rund um die Uhr. In der Dämmerung erwacht hier noch einmal neues Leben, gerade im Sommer nutzen viele Sportler die Zeit nach der Arbeit, um noch zu laufen oder ein paar Runden mit dem Fahrrad zu absolvieren. Andere sitzen einfach auf den noch vom Tag warmen großen, schwarzen Felsen und trinken diverse Getränke, die manchmal verschämt in braunen Papiertüten verborgen werden. Hunde werden ausgeführt, nun von ihren Besitzern, oder toben auf den dafür vorgesehenen Wiesen herum. Ein paar Kinder turnen noch an den Spielgeräten. Wenn es dunkler wird, konzentriert sich das Geschehen auf die großen Straßen, die den Park durchziehen, und manch ein Läufer oder Sportlerin dreht nun die Runden mit einer Stirnlampe. Immer noch sind genügend Menschen hier unterwegs, um sich nicht einsam zu fühlen oder zu ängstigen.  

Wenn es in den Straßen downtown dunkel wird, schillert die Reklame in allen Farben, spiegelt sich in den Regenpfützen und erleuchtet den Dampf, der aus den Gullydeckeln, Spalten im Asphalt und den rotweißen Röhren emporsteigt. Anfangs hasten die Menschen noch im Feierabendverkehr, drängen zu den U-Bahn-Stationen, deren grünweiße, ballförmigen Lampen auf die nutzbaren Eingänge hinweisen. Dazwischen strömen die Nachtschwärmer aus, reihen sich in die Schlangen vor den angesagten Restaurants und Clubs ein. In warmen Sommernächten sitzen die Gäste in überdachten Bretterhütten auf den Bürgersteigen oder dafür freigegebenen Parkplätzen. Diese Hütten unterliegen mittlerweile strengen Gestaltungsvorschriften, zu groß war der Wildwuchs, und zu groß die Gefahr, dass unter den Bretterböden sich die Ratten an heruntergefallenen Speiseresten labten. In den kurzen Zeiten von Herbst und Frühling schimmert das orangerote Licht der Heizstrahler und die Wärme wabert um die Köpfe. Vor den Türen warten die Fahrradkuriere von Gorillas, Uber-Eats und anderen Essensbringdiensten und schauen auf ihre Smartphones, um die Fahrten zu koordinieren. An einigen sehr angesagten Imbissen ist die Schlange oft so lang, dass es sich für die Fahrer nicht mehr lohnt, dorthin eine Tour anzunehmen. Zwischendrin holen auch einzelne Menschen das Abendessen für die ganze Familie ab, in den Plastiktüten stapeln sich dann drei oder vier verschiedene Behälter und warmer, leckerer Duft steigt auf. Im Kopf überschlage ich, dass das ein teures Vergnügen ist, vier Portionen à 15 – 20 Dollar plus Tax und Tip, und wenn man keine eigene Küche hat, oder aus Platzgründen im Backofen die Schuhe lagert, dann kommt über den Monat einiges zusammen. Und weil Platz in den meisten Innenstadtwohnungen immer ein Problem ist, wird hier auch nicht auf Vorrat eingekauft, sondern man lässt sich alles, was man braucht, just in time von Lieferdiensten und Fahrradkurieren bringen. Wenn ich in meinen Supermarkt gehe, gibt es dort Angestellte, die die bestellten Sachen aus den Regalen sammeln und zur Abholung im Eingangsbereich in Papiertüten bereitstellen, entweder für die Kunden selbst oder die Kuriere.

Später dringt Tanzmusik durch die Türen auf die Bürgersteige, Uber-Fahrzeuge und Taxis sammeln die ersten Gäste ein. Ich staune immer, wenn eine große Veranstaltung mit einem Publikum von mehreren Tausend Menschen in dieser Stadt zu Ende geht, wie schnell diese von wartenden SUVs mit Fahrern, Ubers und Taxis geradezu absorbiert werden, wie schnell alle in der Subway verschwunden sind. Das ist höchst effektiv und sehr beeindruckend. Nach Mitternacht wird es etwas stiller in den Straßen, aber immer noch sind genügend Menschen unterwegs. Ich nehme meine Bahn nach Harlem, am späten Abend fahren die U-Bahnzüge alle „local“, das heißt, sie halten an jeder Haltestelle. Ich laufe von der Station in der 125. Straße an der Polizeistation und einem Lokal, in dem noch eine Life-Band spielt, vorbei und biege in meine Straße. Nur noch ganz selten scheuche ich hier quiekende Ratten auf, die Politik scheint hier zu wirken. Ab und zu sieht man hier Licht aus den Souterrain Wohnungen unter den Stoops hinter Vorhängen oder Jalousien hervordrängen, selten erhascht man einen Einblick in kleine Zimmer, die bis auf den letzten Platz ausgenutzt werden, in denen ein kleiner, vertrockneter Weihnachtsbaum auf dem Küchentresen neben der Mikrowelle steht, ein Hund sich auf dem Sofa ausstreckt, oder das blaue Licht eines Fernsehers flackert. Die Schule gegenüber wird von gleißenden Baustrahlern hell erleuchtet. Im Licht der Scheinwerfer arbeiten noch drei Bauarbeiter, sie entfernen mit einer Art Pressluft-Meißel alte Fliesen von den Wänden, das macht einen Höllenlärm. Sie haben erst nachmittags, nach Schulschluss, anfangen dürfen, nun sind sie hoffentlich bald fertig, sonst wird das nichts mit einem ruhigen Abend (es ist schon fast Mitternacht). Als ich in der Wohnung angekommen bin, schaue ich noch einmal kurz zum Wohnzimmerfenster hinaus und sehe in der Ferne die Aussichtsterrasse vom „Edge“ leuchten.

 

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