Chelsea Hotel
Das Hotel Chelsea muss ich nicht vorstellen, es wurde berühmt durch die vielen Künstler, die dort vor allem in der 1960er Jahren ein Zimmer fanden, und vor allem durch den melancholischen Song von Leonard Cohen. Dieser Song hat mir in etlichen vergangenen Novembern in Deutschland an düsteren Tagen Trost gespendet, aber er hat auch mein inneres Bild von New York gemalt: Düster, aber nicht ohne Hoffnung, voll falscher Versprechungen und harten Abstürzen, rau und tough, dreckig, aber voller Kreativität. Hartes Schwarzweiß, mit vielen zarten und unbestimmten, verwaschenen Grautönen. Und natürlich ist New York so, aber dann auch wieder nicht, sondern vielmehr das Gegenteil: Grell leuchtend in schreienden Farben am Times Square, ein teures Pflaster, wie man so sagt, außer das fast nirgendwo gepflastert ist. Laut und schrill, atemlos hetzend, oberflächlich und ohne Tiefgang. Keine Künstler nirgends, sondern Menschen, die sich und ihre Arbeit vermarkten. Und nun komme ich von der High Line, stehe in der 23th Street zwischen der 7. und 8. Avenue vor dem Hotel, das hoch, zwölfstöckig aus roten Backsteinen gemauert vor mir aufragt. Hier lebten alle, die in den 60er Jahren relevante Kunst und Musik machten, die schwarzen Plaketten neben dem Eingangsportal machen darauf aufmerksam: Musiker-Poeten wie Bob Dylan, Jimi Hendrix, Janis Joplin, Patti Smith, Leonard Cohen, Maler wie Salvador Dalí, Schriftsteller wie Arthur Miller, der Filmregisseur Rosa von Praunheim, der Fotograf Robert Mapplethorpe und, und, und. Sie haben die Zimmermiete mit ihren Werken bezahlt, es sollen heute noch Bilder von ihnen im Foyer hängen. Ich habe die zumeist schwarzweißen Fotos der verranzten kleinen Zimmer gesehen und weiß darum, dass in diesem Gebäude auch Menschen verzweifelten und an Überdosen starben. Trotzdem schaue ich mit einer unbestimmten Wehmut auf das Gebäude, das schon längst an eine Hotelkette verkauft worden und komplett renoviert worden ist. Wollte ich jetzt als Tourist nach New York kommen, wäre es mir zu teuer, für nicht etablierte Künstler unerreichbar. Ich stehe vor dem Eingang und möchte nicht hineingehen. Ich sehe ja den Glanz und Glamour auf die Straße leuchten, die Kronleuchter, Lüster, die dicken Teppiche und Wandtäfelungen. Aber ich denke an die Zeit, in der dort Künstler ein und ausgingen, durch die dunklen Korridore zu ihrem Zimmer fanden, erste zarte Akkorde zu Melodien webten, Worte dazu fanden, Gedichte vertonten, malten, fotografierten. Für mich gehört da eine gewisse Unfertigkeit der Räume dazu, in peinlich sauberen und komplett durchdesignten Räumen ist es schwer, den Anstoß zu neuen und tragenden Ideen zu finden. In meiner Vorstellung sind etliche dieser Zimmertüren gar nicht mehr abschließbar, die Schlösser kaputt und keinen kümmert es. Aus dem Nebenzimmer klingen gedämpfte Gitarrenakkorde, von der gegenüberliegenden Seite des Flurs ein Streit eines Pärchens, obendrüber übt jemand Stepptanz, und irgendwo quietschen Bettgestelle. Hier hatten sie passende Räume und den Austausch untereinander gefunden, dazu Hoteleigentümer, welche sie unterstützten, die kreativen Ausbrüche zuließen und förderten. Ich stelle mir die Atmosphäre ein wenig so vor, wie in den Zeichensälen und Werkräumen meiner Uni, wo meist junge Menschen vor sich hinbrüteten, Ideen entwickelten und Gestalt werden ließen, skizzierten, Modelle bastelten, mit Ton arbeiteten, sägten, Musik hörten. Es roch nach Klebstoff, Farbe, Zigaretten, Lösungsmitteln und Kaffee. Wenn man ein Holzbrett brauchte, musste der Nachbar schon mal auf seinen Tisch aufpassen… Am Ende, das eigentlich nie ein Ende war, sondern einfach ein erschöpftes Aufhören, weil der Abgabetermin kurz bevorstand, war eine kleine neue Welt entstanden, in den Köpfen der Schöpfer, in kleinen Modellen oder Zeichnungen, Radierungen, in Ton modelliert oder in Acryl auf große Leinwände gemalt. So könnte es gewesen sein, in diesen kleinen Zimmern, die über mir steil aufragen, durch Bänder von schwarzen, gusseiserenen Balkongeländern zusammengehalten, jedes Zimmer wie in einem Puppenhaus offenstehend, in jedem eine andere Geschichte, ein anderes Lied, eine andere Künstlerin, hier ein verrücktes Paar in zerwühlten Bettlaken, dort glimmt noch eine Zigarette im Aschenbecher, der Rauch kräuselt sich der Decke entgegen und es riecht nach frischer Ölfarbe von einer achtlos weggelegten Palette. An der Fassade hängt das große Schild mit den Leuchtbuchstaben „HOTEL CHELSEA“. Es wird demnächst versteigert werden, so kann man es zumindest lesen. Die neuen Betreiber des Hotels wollen es nicht mehr, obwohl das Hotel schon seit Jahrzehnten als Denkmal ausgewiesen ist. Buchstabe für Buchstabe soll es verkauft werden. Der Kommerz macht vor den Sentimentalitäten und vergangenen Zeiten nicht halt. Die Zimmer sind renoviert, das Parkett glänzt. Die Betten sind gemacht, das Dachgeschoß beherbergt nun keine Künstler mehr unter dem schrägen Dach, hier kann man jetzt im Spa-Bereich und dem kleinen davorliegenden Dachgarten wellnessen. In den Giebelzimmern befindet sich ein Fitnessraum, mit Laufbändern und einem Stepmaster zur Körperoptimierung, - so kann man es auf der Webseite des Hotels sehen, zwischen den Fotos aus vergangenen Zeiten, mit denen sie eine längst vertrieben Atmosphäre zu Marketingzwecken beschwören. Und wie Geister aus vergangenen Zeiten haben sich immerhin 40 Dauermieter ihr Wohnrecht erstritten, die über zehn Jahre dauernde Renovierungszeit eingerüstet und im Baulärm überstanden und leben immer noch hier, zwischen Hotelgästen, die mindestens etwa 700 Dollar die Nacht zahlen und teure Cocktails schlürfen. Nur neben dem Hotel, da gibt es einen winzigen Gitarren-Laden unter einem Schild für eine Änderungsschneiderei. Vor dem Eingang sitzt eine verblasste lebensgroße Marylin-Figur, die mir eine Ukulele entgegenstreckt. Der Besitzer des Ladens hat sie von einer Müllhalde auf Long Island gerettet. Und ich stelle mir vor wie hier Leonard Cohen, Bob Dylan oder Janis Joplin neue Saiten für ihre Gitarren kaufen, Picks oder Notenpapier für ihre Songs. Ich recherchiere, und stelle fest, dass dieser Laden so, wie er jetzt ist, erst seit 2009 in den Räumlichkeiten der ehemaligen Änderungsschneiderei existiert, aber er bewahrt die ursprüngliche Stimmung, hier hat Patti Smith eingekauft und Joan Baez war hier. Die gründlichen Renovierungsbestrebungen der neuen Hotelbesitzer wurden zumindest auf der winzigen Ladenfläche durch eine Bürgerinitiative verhindert und er bekam einen Mietvertrag für fünf Jahre. Das neu renovierte Chelsea Hotel und der alte Laden - so ist New York heute, alles ist voller Gegensätze und verändert sich ständig. Wenn ich in ein paar Jahren wieder einmal hierher zurückkehre, wird es anders sein. Aber insgeheim erfreue ich mich doch daran, dass hier noch ein kleines Stück der Vergangenheit lebendig ist.
… We are ugly, but we have the music."
aus “Chelsea Hotel“ von Leonard Cohen