Imagine

Gedenken an John Lennon

Mein Kraftort, meine Rettung in dieser Stadt, ist der Central Park. Ich laufe fast jeden Tag hindurch. Ich komme vom Norden, von Harlem her, und je nach Laune, Witterung und Tagesform mäandriere ich vom Harlem Meer zum Botanischen Garten, hinüber zum „Loch“ mit seinen Wasserfällen, an den Wiesen und Sportfeldern vorbei Richtung Süden. Einen meiner absoluten Lieblingsplätze besuche ich immer wieder: Das Imagine Mosaik in den Strawberry Fields nahe der 72th Street, angelegt von Yoko Ono zur Erinnerung an ihren Mann John Lennon. Das Mosaik ist hübsch, es erinnert an Mosaike aus Pompeij, aber was diesen Platz ausmacht, ist etwas anderes. Es ist ein Platz lebendiger Erinnerung. Hier ist immer jemand, der oder die Musik macht, meistens ganz schlicht mit einer Gitarre und Gesang. Natürlich immer Stücke von den Beatles, und meistens ganz uneitel ohne ambitionierte eigene Interpretation, sondern zu Herzen gehend. Menschen aus aller Welt kommen hier hin und hören zu. Manche legen Blumen nieder. Alle halten in der Geschäftigkeit der Metropole kurz inne. Ja, natürlich werden auch Selfies gemacht. Selten fand ich es pietätlos, fast alle Menschen, die hierherkommen, teilen einen Moment der Ergriffenheit. An Gedenktagen, wie dem 9. Oktober, John Lennons Geburtstag, sind mehr Menschen dort, es werden noch mehr Blumen niedergelegt, dazu Zeichnungen und Fotos.

Der 8. Dezember, der Tag, an dem John Lennon spät abends direkt vor seinem Wohnhaus, dem Dakota Apartmenthaus, niedergeschossen wurde und starb, ist auch für mich ein ganz besonderer Tag, es ist nämlich der Geburtstag meiner Schwester. Sie ist ein knappes Jahr, bevor ich nach New York zog, ganz plötzlich verstorben, ich kann es immer noch nicht fassen. An ihr Grab in unserem Heimatort kann ich dieses Jahr nicht gehen und in dieser Stadt habe ich noch keinen Ort zum Trauern gefunden. Ich möchte an ihrem Geburtstag auch nicht in endloser Trauer versinken, sondern vor allem an die guten Momente denken, die wir zusammen verbracht haben. Ich hoffe auf jemanden, der an diesem Tag ein paar vielleicht eher melancholische Melodien der Beatles am Imagine Mosaik spielt und laufe durch die eisige Kälte dorthin. Schon von weitem höre ich die Musik. Es muss eine ganze Band dort sein, denke ich. Ich schlüpfe durch die Menschenmenge, die sich dort schon am frühen Morgen versammelt hat und staune: Umgeben von einer Menschenmenge spielen dort 15 Leute mit Gitarre, begleitet von zwei Drumsets und einem Mann mit einer Melodica. Der ältere der beiden Schlagzeuger trägt eine fantasievolle pinke Sergeant Pepper Uniform. Alle haben das dicke schwarze Beatles Songbook dabei und rufen sich den nächsten Titel zu, und spielen dann gemeinsam. Es ist ein einziges spontanes Gemeinschaftserlebnis, ich bin nicht allein an diesem Tag. Alle singen, einzelne Menschen lösen sich immer wieder einmal aus dem Kreis heraus und legen Blumen, vor allem rote Rosen am Mosaik ab oder zünden dort eine Kerze an. Eine Frau stellt eine blaue Sturmleuchte dazu, die „Flame of Hope“, so steht es auf einem Zettel. Sergeant Pepper bearbeitet weiter sein Schlagzeug, Lied folgt auf Lied, die Menge singt, wippt und klatscht im Rhythmus mit. Die eisige Kälte ist längst vergessen. Banker in Anzügen, Touristen, alte Beatles- Fans – sie alle summen und singen mit. Ein junger Mann mit einem American Pittbull auf dem Schoß sitzt auf einer Bank mit geschlossenen Augen und nickt bedächtig und irgendwie zustimmend mit dem Kopf im Takt. Die blonde Frau daneben sitzt auf der Lehne der Bank, um besser sehen zu können. Ich stehe mittlerweile zwischen etlichen Gitarrenkoffern auf dem Rasen hinter den Bänken und zwei Gitarristen, die etwas später gekommen sind, ihren Notenständer aufbauen und ebenfalls das schwarze Songbuch dabeihaben. „Love me do“ erklingt, und ein Pärchen küsst sich weltvergessen. Einige der Gitarristen spielen zusätzlich noch Mundharmonika, unterstützt von dem Mann mit der Melodica. Immer wieder geht der Blick von einzelnen Menschen hoch zum Dakota-Haus, welches durch die kahlen Bäume schimmert. Trotz dieser düsteren Erinnerungen und des traurigen Datums ist es ein fröhliches Fest, das hier stattfindet.

Einer der Gitarristen packt jetzt seine Sachen zusammen in einen Bollerwagen, da ruft sein Musiker-Kollege: „Du willst doch nicht wirklich gehen?“ – „Ich muss zur Arbeit“, entgegnet er. „Aber doch nicht heute!“ rufen die anderen. Mir wird klar, dass alle hier sich einen ganzen Tag freigenommen, Urlaub genommen haben, einen Tag von den wenigen Urlaubstagen, die es in Amerika gibt, um hier dabei zu sein und Musik zu machen. Das zeigt mir, wie besonders das alles hier ist, wie groß, wie wenig selbstverständlich.

Nach etwa einer Stunde voller fröhlicher Musik erscheint plötzlich ein junger Mann mit dunkler Schirmmütze, einer randlosen Sonnenbrille mit gelben runden Gläsern, braunem Sakko und Schal – ein perfektes John Lennon Double. Die Menge teilt sich und lässt ihn in die Mitte kommen. Fotos mit ihm werden gemacht, der junge Gitarrist mit den Braids reicht ihm eine Gitarre, er ergreift sie und nun kommt noch mehr Bewegung in die Lieder. Cowbells werden geschlagen, „Baby you can drive my car“ ertönt, Beep-Beep – Beep-Beep -Yeah! Wer den Text nicht kann, liest ihn vom Smartphone ab oder singt wenigstens beim Refrain mit. Wo etwas Platz ist, wird getanzt, sonst wiegt man sich oder wippt sich die Füße warm. „Give peace a chance“ ertönt, und hier kann man wirklich glauben, dass Friede zwischen Menschen unterschiedlichster Herkunft, Hautfarbe und sozialer Stellung möglich ist, denn hier singen alle zusammen, und sie meinen es auch so, mindestens in diesem Moment. Sergeant Pepper spielt endlich „Sgt. Peppers Lonely Heart Club“, dann tönt es laut und energisch: „Twist and shout“ und die Menge tanzt und schüttelt die Hüften und Köpfe. Trotz der klirrenden Kälte wird mir jetzt ordentlich warm. Für das „Ah-Ah-Ah-Ah“ teilt der junge Mann mit den Braids mit einem Handzeichen schnell die Menge in einen vierstimmigen Chorus ein. Mittlerweile sind anderthalb Stunden vergangen. Es ist ein fröhliches Fest, das hier stattfindet. Ich fühle mich getröstet und gut aufgehoben in dieser Stimmung, mit diesen Menschen, mit denen ich singe, wippe, tanze und im Takt klatsche und wenn ich den Text nicht kenne, wenigstens summe.

Auf einmal ertönt „So this is Christmas“ – und da werde ich nun doch sentimental. Ich denke an meine Schwester, meine „dear one“, Weihnachten ist in zwei Wochen, es wird das zweite ohne sie sein. Die Kälte, die ich vergessen habe, kriecht langsam meine Beine empor. Ich vergrabe meine Hände in die Taschen meiner dicken Winterjacke, schaue ein letztes Mal auf die fröhliche Menge und verschwinde zwischen den Bäumen.

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