Dazwischen
Ich lebe zum ersten Mal in meinem Leben in einem Haus, wo ich nur drinnen bin. Will ich raus, muss ich raus. Komplett, zwei Treppenläufe nach unten und durch zwei Türen hindurch. Es gibt keinen Balkon, und da die Mückengitter vor den Fenstern fest installiert sind, kann ich noch nicht einmal die Hand rausstrecken und schauen, ob es regnet, wie kalt es ist, jemandem auf der Straße winken.... Jetzt, wo ich Covid habe, kann ich mich nicht, wie zu Hause, einfach auf die Terrasse setzen und ein Buch lesen, mit meinem Mann und viel Abstand draußen essen, mit den Nachbarn über den Zaun plaudern. Immerhin scheint viel Sonne in die Wohnung auch das ist nicht selbstverständlich in New York, das ist ein großes Privileg. Wohnung in den unteren Stockwerken sind oft „günstiger“ (naja, nicht wirklich günstig, aber immerhin günstiger), als die mit Blick und vor allem Sonne. Mir fehlt dieses „Dazwischen“, das halbprivate, die Möglichkeit, nicht ganz drinnen und noch nicht ganz draußen zu sein. Mangels Platz für so viele Bewohner auf diese doch gar nicht so große Insel sind auch die Übergänge vom Privaten zum öffentlichen Raum rar. Hier in unserer Straße sind nur die Treppenaufgänge zu den Brownstonehäusern solche Bereiche. Hier wird gerade liebevoll für Halloween geschmückt, dekoriert und signalisiert, dass diese Haus von Menschen bewohnt ist, die Deko und Grusel mögen, Jahreszeiten, Feste. An anderen Treppen hängen Schilder, die „Loitering“ und das Sitzen auf den Treppen verbieten. Auch das lässt Rückschlüsse zu. Auf unserer Treppe nutzen ganz selten Mal ein, zwei Mieter die Gelegenheit, in der Sonne sitzend zu lesen oder in Ruhe zu telefonieren. Wenn man hier sitzt, erscheint einem die Straße als Bühne. Wenn man auf der Straße geht, ist es genau umgekehrt. Wer spielt hier für wen? Es ist formal ein halbprivater Raum, und doch ist er viel öffentlicher, ausgesetzter, als ich es kenne. Vielleicht südlicher? Schließlich ist hier das Wetter noch Ende Oktober angenehm warm?
En weiterer Nebeneffekt der Treppenaufgänge: Auf beiden Seiten der Straße müssen die Häuser etwa zwei Meter zurückstehen. Der Straßenraum erweitert sich, es fällt mehr Sonne in die Straßen, die eine großzügige Breite haben und Platz für zwei Reihen Bäume, die Schatten spenden. Hier bei uns in Harlem sind die Häuser in den Streets meistens ein oder zwei Stockwerke niedriger als zum Beispiel an der Upper West Side oder in Greenwich. Das macht die Straßen heller, die Sonne erreicht das Straßenlevel auch im Herbst. Nur die Stirnseiten sind ein Stockwerk höher und schiirmen damit auch den Lärm der Durchgangsavenuen ab.
Ich warte hier auf der Treppe auf den Postboten, dem Zwischenreichwesen, dem, der die Schlüssel zu der ersten Haustüre und der Letterbox hat, der einmal am Tag kurz in alle Häuser hineinkommt und doch nie richtig drinnen ist. Ich muss ihn abfangen, weil es immer noch keinen Schlüssel zu unserem Briefkasten gibt und wir Post von der Bank erwarten. Er erzählt mir, dass er bei diesem Haus Order hat, die Post unter der Gittertüre zu dem Abstellraum unter der Treppe durchzuschieben. Und so warte ich auf den Hausmeister, das Faktotum, das hier die Treppe und den Bürgersteig kehrt, den Müll herausstellt und Zugang zu dem kleinen Abstellraum hat, ein weitere Zwischenreichswesen.