Reflektionen über Reflexionen

Manche Fassaden, deren Gläser nicht eben sind, brechen die Spiegelungen wie in einem See, durch den eine Welle schwappt, so entsteht ein einzigartiges Verwirrspiel auf den Fassaden Manhattans.

Es fiel mir gleich bei einem meiner ersten Spaziergänge auf: Alte, steinerne Fassaden sind durchgegliedert, sie und ihre Feuertreppen, Säulen, Vorsprünge und Giebel sind plastisch, werfen Schatten. Die modernen neuen Gebäude aus Glas spiegeln, werfen gleißendes Sonnenlicht aus allen Winkeln zurück in ihre Nachbarschaft, bis auch der letzte Winkel hell erleuchtet ist.

Ich lief über die High Line, das ist – für alle, die noch nie in New York waren- ein neuer Park, der auf einer stillgelegten Hochbahntrasse auf der Westseite von Manhattan von der 14. Straße im Meatpacking District bis zur 34. Straße (jetzt Hudson Yards) mehr oder weniger parallel zur 10. Avenue verläuft.

Zu Beginn des letzten Jahrhunderts gab es im Meatpacking District über 250 Schlachtereien, nach dem 2. Weltkrieg eröffnete das Gansevoort Meat Center. 1932 war bereits die High Line eröffnet worden, eine Hochbahn, die dazu diente, die Fleischwaren in den Westen Manhattans zu verteilen. Bis 1982  ratterten hier die Gütertransporte. Eine Bürgerinitiative setzte sich für den Erhalt der Bahntrasse und die Umwandlung in einen öffentlich begehbaren Park ein. Die hohen Baukosten sollten durch vermehrte Steuereinnahmen in dem durch diese Maßnahme attraktiver werdenden Gebiet und auch die Vergabe von attraktiven Bauplätzen an Investoren erwirtschaftet werden. Tatsächlich ging der Plan weitaus besser aus, als gedacht. Das Gebiet wurde extrem attraktiv, Investoren errichteten Apartmenttürme und gläsernen Bürogebäude beidseitig der Hochbahntrasse. Und da fiel es mir, wie gesagt, auf: Hochhäuser werfen nicht nur Schatten. Die neue, fast immer vollständig verglasten Fassaden spiegeln und reflektieren das Sonnenlicht teilweise wie ein Brennglas. Stehst du im Fokus, lässt es sich im Sommer kaum aushalten. Die wenigen Schattenflächen, die sich auf der High Line (und auch sonst in der Stadt) befinden müssten, werden in der Nachbarschaft der neuen Glastürme zu wahren Brennpunkten der Gentrifizierung.

Abends gibt es allerdings interessante Zwielicht-Situationen dadurch. Für manch einen Nachbar in tieferen Geschossen ist es vielleicht die einzige Möglichkeit, über diese Spiegelungen etwas Sonnenlicht in die Wohnung zu bekommen. Aber die Qualität ist natürlich ganz anders.

Andererseits ist es manchmal ganz schön, wenn sich die Wolken oder das Abendrot auf den Fassaden spiegeln und ganze Hochhäuser so fast unsichtbar werden. Besonders interessant wird es, wenn sich andere Gebäude spiegeln und so ein einziges Verwirrspiel auf den Fotos entsteht. Manche Fassaden, deren Gläser nicht eben sind, brechen die Spiegelungen wie in einem See, durch den eine Welle schwappt.

Mich faszinieren aber die alten Gebäude mit ihren Fassaden aus Brownstone oder Gusseisen. Hier gibt es mehr zu sehen als nur das spiegelnde Glas der Fenster. Jedes Gebäude hat seine ganz eigene Struktur aus Säulen und Wandvorlagen, Mosaiken, Simsen, Gebälk, Vertikalen und Horizontalen. Im Gegensatz zu den neuen Gebäuden dominiert auch bei größerer Höhe immer noch die Horizontale. Das Maß ist eher menschlich (Ausnahmen gibt es aber natürlich auch). Im schrägen Licht am frühen Morgen und am späten Abend erwachen diese Fassaden zum Leben. Während die modernen Gebäude oft eiskalt und blau strahlen, strömen diese Gebäude Wärme und Kraft aus. Die Feuertreppen schaffen eine Verbindung in den umgebenden Raum hinein und werfen ein Netz von Gitterlinien aus Schatten auf die Fassaden. In der Pandemie wurden die Absätze der Feuerleitern genutzt, um draußen sitzen zu können. Wenn man in einem Gebäude steht und nach draußen schaut, wirkt die Feuerleiter wie ein zusätzlicher Filter, eine Erweiterung des privaten in den öffentlichen Raum, durchsichtig, aber raumgreifend. Auch die Vorsprünge von Säulen und die damit einhergehende Durchgliederung der Fassaden schafft Mini-Zonen für hier eine Sitzbank, dort zwei Blumenkübel rechts und links neben einem Eingang und vermitteln so zwischen Drinnen und Draußen. Bei den gusseisernen Gebäuden in Soho  befindet sich oft noch eine geriffelte Bodenplatte aus Blech, zum Teil mit Stufen, manchmal auch eine Rampe, die auf den Bürgersteig hinausragt. Das kann eine ziemliche Stolperfalle sein, wenn man nach oben schaut, bei Regen und Schnee ist es auch manchmal ziemlich glatt. Aber auch hier wird eine Fläche des öffentlichen Raums für einen Übergang in ein Geschäft oder Restaurant genutzt.

In einer Stadt, in der überall grelle Werbung leuchtet und flimmert, wirken die Fassaden mit den klassischen Säulenordnungen nicht nur geordnet, sondern sie bringen auch Ruhe in den jeweiligen Straßenzug hinein. Hier zählt nicht die verrückteste und größenwahnsinnigste Idee, sondern die Stärke liegt im gesamten Ensemble.

Ebenso schön und kraftvoll sind die vielen Straßenzüge in Harlem mit den wunderschönen Brownstone-Häusern. Auch wenn in einer Straße zunächst einmal alle Häuser recht ähnlich sehen, so unterscheiden sie sich doch in ihren wunderschönen Details: Die Gebäude an den Avenuen sind höher, als die Wohnhäuser in den Streets. Mal verläuft der „Stoop“ (das ist die Treppe zum Eingang im ersten Stockwerk) gerade, mal geschwungen, mal über Eck. Es gibt runde Säulen neben dem Eingang oder eckige, kannelierte Wandvorlagen. Manche Häuser sind nur zwei Fenster breit, andere drei. Giebel über dem Eingang sind dreieckig oder ein Bogensegment. Wenn man eine Straße entlanggeht, merkt man plötzlich, wie ein Rhythmus in der Fassadengestaltung ablesbar wird. Natürlich kann man auch in Greenwich oder an der Upper West oder Upper East Side schöne Brownstone Häuser erleben, aber in Harlem gibt es ganze Straßenzüge davon, ganz besonders schön zwischen dem Malcolm X Boulevard (Lenox Avenue) und dem Marcus Garvey Park, rund um den Park und in den angrenzenden Straßen. Im Sommer geht man hier unter schattigen Bäumen, im Herbst und Winter, wenn die letzten bunten Blätter gefallen sind, hat man einen besonders guten Blick auf die Details. In fast jedem Block findet sich dazu noch mindestens eine Kirche, aus hellem Sandstein und im Stile eine griechischen Tempels, aus Backsteinen gemauert, aus Brownstone, mal neoromanisch, mal neugotisch. Wer Architektur aus der Zeit vor etwa hundert Jahren und mehr liebt, kommt hier auf seine Kosten.

 

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