Die Stadt, die niemals schläft
New York ist laut und geschäftig. Die Subway fährt rund um die Uhr in einem guten Takt. À propos „Takt“: Alles ist hier gut durchgetaktet. Partys oder Empfänge dauern selten länger als zwei Stunden, man hat ja schließlich danach noch etwas vor. Deshalb gibt es „Pre Theatre Menus“ und welche für danach, für alle, die nicht ins Theater oder die Oper gehen, ist der Slot dazwischen, die eigentliche Zeit, wenn zum „Dinner“ eingeladen wird. Comedy Shows fangen oft erst danach an. man trinkt sich schon vorher in Stimmung, für einige der Witze bei Stand Up Comedy ist Alkohol eindeutig von Vorteil.
Nachts wird aber nicht nur gefeiert. Die Schule gegenüber unserem Apartment wurde zum Beispiel erst nach Schulschluss ab 15 Uhr nachmittags renoviert. Da konnten dann schon mal die maroden Wandfliesen bis 11 Uhr nachts mit dem Stemmhammer abgelöst werden. Die hellen Baustrahler leuchteten auch unsere Wohnung gut aus, als bis tief in die Nacht neu gefliest wurde.
Wer nachts wach wird, hört die Müllabfuhr, die in den Nächten viel schneller durchkommt und besonders die Zeiten nach Mitternacht bis in den frühen Morgen nutzt. Ich werde vom Piepen eines rückwärts fahrenden Müllfahrzeugs geweckt. Oranges Licht füllt den Spalt zwischen den beiden Häusern gegenüber. Im Nachbarhaus geht ein Licht im obersten Stockwerk an. Ein Mann im weißen Hemd öffnet den Kragen, öffnet das Hemd. Eine Jalousie senkt sich. Es ist 2 Uhr morgens.
Das ständige Getriebensein stresst den New Yorker, auch wenn das kaum einer zugibt. Hier muss man ständig unter Strom stehen, sich gewaltig anstrengen, sonst kann man sich die schwindelerregenden Mieten für selbst Kleinstwohnungen kaum leisten. Besser, man ist Doppelverdiener. Besser, man hat nicht noch Kinder, die im besten Fall ein eigenes Zimmer haben (natürlich alle zusammen, denn three-bedroom apartments sind in Manhattan ganz selten und erst recht unerschwinglich), in die Schule gefahren werden müssen, eine Nachmittags- und eine Ferienbetreuung brauchen, eventuell ein Au Pair (das braucht dann nun wirklich noch ein Zimmer mehr). Also besser doch einen Hund? Einen Labradoodle, der nicht haart und damit in der engen Wohnung weniger Dreck macht? Oder einen Maltipoo, der auch nicht haart, aber noch weniger Platz wegnimmt? Dann wäre es allerdings besser, im Homeoffice arbeiten zu können, oder man benötigt einen Dog Walker. Alles muss organisiert werden.
Und wenn das Geld aus einem Job nicht reicht, muss ein zweiter Job her. Und neben dem Studium sowieso, es sei denn, Daddy oder Sugar Daddy bezahlen.
In dieser Stadt, in der überall Leuchtreklame in schrillen Farben flackert, andauernd Sirenen im gesundheitsgefährdenden Bereich tönen und ständig laut gehupt wird, alle immer unter Strom stehen und sogar das Mineralwasser im Supermarkt mit „Overachieving! Smart!“ angepriesen wird, sind viele immer müde. Morgens ist das ein Fall für Koffein. Dass es das in allen Formen gibt, von Americano über Cappuccino und Cold Brew, Espresso, Flat White, (Oatmilk) Latte Macchiato, Pumpkin Spiced Almond, Irgendwas Infused Coffee bis hin zu White Chocolate Mocha – das muss ich nicht erwähnen. Es fließt morgens erst in überdimensionale Pappbecher und schießt dann in Körper und Gehirn, während die Augen hinter großen Sonnenbrillen sich immer noch nicht dem Tageslicht stellen wollen oder können.
So ein Tag in Manhattan fordert. Abends ist die Subway ein großer Schlafsaal, nicht nur für die Obdachlosen, die dort regelmäßig vor allem im Winter schlafen. Leute nicken beim Warten auf die U-Bahn auf den Bänken ein, schlafen im Sitzen im Wagon und schnarchen leise.
Nicht alle können bei dieser ständigen Unruhe im Äußeren und Inneren schlafen. Der infernalische Lärm dieser Stadt und der Stress ist oft zu viel, um wirklich zur Ruhe zu kommen. So gibt es hier meterweise Regalfläche für Melantonin in den Drogerien und Supermärkten.
In der schwülen Hitze, die im September über der Stadt lag , will ich im Supermarkt etwas Wasser kaufen. An der Kasse steht vor mir eine mittelalte blonde Frau mit französischem Akzent und schiebt vier Döschen mit Melatonin-Tabletten (so ca. 50 Stück pro Dose, also insgesamt etwa 200 Tabletten) und ein einzelnes, kleines rotes Matchbox-Auto auf den Kassentresen. Mir fällt automatisch der Titel der Erzählung „Chanson Douce“ ( „Nun schlaf auch du“ ) von Leila Slimani ein. Da tötet eine Nanny aus Überforderung die beiden Kinder, auf die sie aufpassen sollte.
Später fällt mir auf, wie ruhig und schläfrig die Kinder in den großen Bollerwagen sind, welche die Nannys durch die Parks schieben. Die Kleinen hängen eingesackt und still über der Reling. Wenn sie zu Fuß gehen, rennen sie nicht, sie schleppen sich tapsend und still über den Rasen oder durch die Sandkiste. Kaum Geschrei. Es gibt übrigens auch Melantonin-Gummibärchen.
Ich sitze mal wieder in der A-Linie der Subway. Die junge Frau neben mir daddelt auf dem Handy ihres Freundes, der uns gegenüber steht und scrollt sich durch TikTok. Schließlich gibt sie ihm das Handy zurück. Ihr Kopf sinkt verdächtig, ruckt wieder hoch, fällt schließlich zur Seite. Sie rutscht zu mir, ihr Kopf liegt jetzt auf meiner Schulter. Sie schläft. Ihr Freund bekommt von alledem nichts mit. Nach drei Stationen, die sie so mit ihrem Kopf auf meiner Schulter liegend verschläft, kommt schließlich die Station, an der ich aussteigen möchte. Ich schiebe sie sanft zur Seite und stehe auf. Sie schaut etwas verwirrt, ihr Kopf sackt wieder nach vorne, sie schläft weiter.