Halloween
Der Tod geht um in Harlem – und plötzlich ist die Straße familiär. Hunderte Kinder in bunten und abenteuerlich- schaurig-fantasievollen Kostümen bummeln an der Hand ihrer oft ebenfalls kostümierten Eltern durch die Straßen in unserer Nachbarschaft. Bereits seit Anfang Oktober wurde überall in der Stadt geschmückt: Auf den Verkehrsinseln in der Malcom X Avenue gab es Kürbisse und Strohballen mit Figuren. Auf einer gußeisernen Feuertreppe turnte ein Skelett und riesige Spinnen. Die geschwungenen Treppen der Brownstone Häuser in Harlem, der Upper West Side und in Greenwich wurden zu perfekten Bühnen für herbstlich-schaurige Dekoration mit Hexenhüten, Gespenstern, Spinnweben, Skeletten, sogar Hundeskelette, und natürlich Kürbissen, Kürbissen, Kürbissen. Geschnitze und einfach nur orange große, grüne warzige, gelbe mit Hörnchen, eine wahre Pracht. In Greenwich erkennt man die perfekte und atemberaubende Handschrift von professionellen Dekorateuren und Floristen, in Harlem die Freude der Familien am gemeinsamen Schmücken des Hauseingangs. Plötzlich riecht es überall nach Popcorn statt nach Cannabis. Ein aufgeblasenes Einhorn schmiegt sich um den Prinzessinnenkörper seiner Reiterin. Sie hält, wie fast alle Kinder heute in New York, einen orangen Plastikbecher in der Hand, um die Süßigkeiten einzusammeln. Ein paar Jugendliche mit Alienmaske tragen gleich einen ganzen Einkaufskorb. Halbwüchsige Jugendliche sind eh schon schaurig, mit Maske umso mehr. Ein paar Mütter haben Teufelshörne und Hexenhüte ins Haar gesteckt. Ganz Mutige tragen einen Haarreif mit desolaten Puppenköpfen, die reinsten Kopfgeburten. Väter im Teufelskostüm halten liebevoll ihre Spiderman-Söhne an der Hand. Die Straße schwirrt und summt wie ein Freibad im Sommer, ausgelassen wie ein Schulausflug. Unter den Masken sind alle gleich, es gibt kein Schwarz und Weiß, keine Latinos und keine Touristen, es gibt nur interessante Kostüme oder eher langweilige. Die meisten haben sich richtig Mühe gegeben und genießen die wenig laue, eher frische Luft am Abend. Bands spielen in den Restaurants am Straßenrand. In Greenwich soll es eine ganz tolle Parade geben, Maskierte und Gaukler ziehen auf den touristengesäumten Straßen vorüber. Ich bin misstrauisch, die letzten Paraden in Harlem und am Columbustag waren ja nicht so doll. Aber gerade genieße ich es, in Harlem zu sein. Hier ist es fröhlicher als an der Upper West Side, wo viele Kinder nicht von den Eltern, sondern von Nannies begleitet werden und fast nur in den Geschäften Süßigkeiten erbetteln können. Hier spielen Jazzbands, hier ist Stimmung. Familien sitzen auf den Treppenstufen und verschenken Süßes. Auf den Bürgersteigen ziehen maskierte Menschen vorüber. In den Nachrichten wurde berichtet, dass unten in der City Straßen gesperrt würden, weil Heidi Klum ein „besonders Kostüm“ hätte, welches diese Sperrung erfordere. Weil es so sperrig ist? Weil sie nackt geht? So fragte man sich. Hier in Harlem dagegen ist die Stimmung fröhlich, unbeschwert und unkompliziert. Die Kürbisse leuchten. Die Skelette an den Treppen der Brownstone Häuser zählen aber jetzt schon ihre Stunden, bis sie der Weihnachtsdeko weichen müssen. Vorgestern wurde ein Mann hier erstochen, die ganze Nacht flogen Helikopter über dem Viertel. Der Tod geht um in Harlem.